Revision “Abwesenheit des Angeklagten” BGH 3 StR 549/92
Tenor:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Düsseldorf vom 2. Juni 1992 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
1.Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt. Seine Revision dringt mit der auf die Verletzung seines Anwesenheitsrechts gestützten Verfahrensrüge (§§ 230 Abs. 1, 338 Nr. 5 StPO) durch.
Am ersten Hauptverhandlungstag ordnete der Vorsitzende der Schwurgerichtskammer zu Beginn der Anhörung des gerichtsmedizinischen Sachverständigen Prof. Dr. Barz auf Antrag des Verteidigers an, daß sich der Angeklagte während der Erstattung des Gutachtens aus dem Sitzungssaal entferne. Nachdem der Angeklagte entsprechend dieser ausweislich der Sitzungsniederschrift ohne Begründung getroffenen Anordnung “vorübergehend abgeführt” worden war, setzte Prof. Dr. Barz, der an der Obduktion der Tatopfer – der Ehefrau, des Sohnes und des Schwagers des Angeklagten – mitgewirkt hatte, sein Gutachten fort. Dabei wurden Lichtbilder “allseits” in Augenschein genommen. Im Anschluß an die gutachtlichen Ausführungen entschied der Vorsitzende, daß der Sachverständige gemäß § 79 Abs. 1 StPO unvereidigt bleibe, und entließ ihn “in allseitigem Einverständnis”. Als die Hauptverhandlung nach einer einstündigen Unterbrechung fortgesetzt wurde, war der Angeklagte wieder anwesend. Er wurde sodann vom Vorsitzenden mit dem wesentlichen Ergebnis des Sachverständigengutachtens bekannt gemacht.
Diese Verfahrensweise verstieß gegen die verfahrens-rechtlichen Regelungen über die Anwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung. Keine der Ausnahmevorschriften, die in Abweichung von dem grundsätzlichen Anwesenheitsrecht und der grundsätzlichen Anwesenheitspflicht des Angeklagten (§ 230 StPO) ein Verhandeln in seiner – vorübergehenden – Abwesenheit zulassen, greift ein.
Ein Fall des § 231 Abs. 2 StPO scheidet aus. Da der nicht auf freiem Fuß befindliche Angeklagte auf Anordnung des Gerichtsvorsitzenden “abgeführt” wurde, kann in seiner Entfernung aus der Hauptverhandlung eine in dieser Vorschrift vorausgesetzte Eigenmacht (vgl. BGHSt 37, 249, 251 f.; 25, 317, 319, jeweils mit weiteren Nachweisen) selbst dann nicht gesehen werden, wenn der Angeklagte, was naheliegt, mit dieser Maßnahme in Übereinstimmung mit seinem Verteidiger einverstanden war, ja sie erstrebte, weil er eine unmittelbare Konfrontation mit den Ergebnissen der Obduktion scheute.
Aber auch an den Voraussetzungen für eine Abwesenheitsverhandlung nach § 247 StPO fehlt es sowohl in formeller als auch in materieller Hinsicht.
Die Befugnis, den Angeklagten vorübergehend von der Hauptverhandlung nach § 247 StPO auszuschließen, steht dem Gericht, nicht aber dessen Vorsitzenden zu. Es bedarf daher stets eines förmlichen Gerichtsbeschlusses (BGHSt 22, 18, 20; 15, 194, 196; 4, 364, 366; 1, 346, 350). Ein solcher ist nicht ergangen. Durch die Anordnung des Vorsitzenden konnte er nicht ersetzt werden. Das Einverständnis der Verfahrensbeteiligten mit der eingehaltenen Verfahrensweise ändert daran nichts, weil die Voraussetzungen des § 247 StPO nicht ihrer Verfügung unterliegen (vgl. BGH NStZ 1991, 296; BGH, Beschlüsse vom 6. Dezember 1977 – 5 StR 724/77 – und vom 22. April 1975 – 5 StR 146/75).
Darüber hinaus mangelt es auch an einem Ausschließungsgrund nach § 247 StPO. Nach Lage der Dinge ist zu vermuten, daß es der Angeklagte vermeiden wollte, die gutachtlichen Ausführungen über das Ergebnis der Obduktion der ihm früher nahestehenden Tatopfer anhören zu müssen, weil ihm derartige Erörterungen auf Grund seiner nachträglichen Einstellung zu den Taten besonders nahe gingen. Diesem Wunsch wollte der Vorsitzende ersichtlich entgegenkommen. Das reicht aber nicht aus, um die Ausschließung des Angeklagten sachlich zu rechtfertigen. Die im Rahmen des § 247 StPO allein in Betracht kommende Regelung des Satzes 3 sieht eine Entfernung des Angeklagten zu seinem eigenen Schutz nur für die Dauer von Erörterungen über seinen “Zustand” und die “Behandlungsaussichten” vor. Um solche unmittelbar die Person des Angeklagten betreffenden Verhandlungen ging es bei dem Gutachten von Prof. Dr. Barz nicht. Die Ausschließung nach dieser Regelung ist des weiteren davon abhängig, daß bei Anwesenheit des Angeklagten die Gefahr eines erheblichen Nachteils für seine Gesundheit bestünde. Auch dies steht nicht fest. Daß sich der Angeklagte im Falle seiner Anwesenheit in seiner Empfindsamkeit verletzt gefühlt hätte, kann mit einem erheblichen gesundheitlichen Nachteil im Sinne des § 247 Satz 3 StPO nicht gleichgesetzt werden. Die Gefahr einer darüber hinausgehenden Beeinträchtigung ist nicht festzustellen. Unter diesen Umständen erübrigt sich eine Erörterung, ob die grundsätzlich eng auszulegende Ausnahmeregelung des § 247 StPO (vgl. BGHR StPO § 247 Satz 2 Nachteil 1; BGH NJW 1957, 1161) überhaupt einer entsprechenden Anwendung auf einen Fall zugänglich wäre, in dem bei Anwesenheit des Angeklagten während anderer, nicht in § 247 Satz 3 StPO genannter Verhandlungsvorgänge ein erheblicher oder gar schwerwiegender Nachteil für seine Gesundheit zu befürchten ist.
Schließlich wäre die Verhandlung über die Frage der Vereidigung und die Entlassung des Sachverständigen sowie die Einnahme des Augenscheins in Abwesenheit des Angeklagten von § 247 StPO selbst dann nicht gedeckt gewesen, wenn die Entfernung des Angeklagten für die Dauer der Vernehmung des Sachverständigen auf § 247 Satz 3 StPO hätte gestützt werden können (vgl. zur entsprechenden Frage bei § 247 Satz 1 und 2 StPO: BGHR StPO § 247 Abwesenheit 1 bis 3 und § 247 Satz 2 Nachteil 1 – Verhandlung über Vereidigung und Entlassung eines Zeugen; BGHR StPO § 247 Abwesenheit 4 und 5, BGH NStZ 1981, 95 – Augenschein).
Der Verstoß gegen das Anwesenheitsrecht des Angeklagten betrifft mit der Vernehmung des gerichtsmedizinischen Sachverständigen, der Einnahme eines Augenscheins sowie der Verhandlung und Entscheidung über die Vereidigung und Entlassung des Sachverständigen, wesentliche Teile der Hauptverhandlung und erfüllt damit die Voraussetzungen des unbedingten Revisionsgrundes nach § 338 Nr. 5 StPO.
Seiner Geltendmachung steht wegen der Unverzichtbarkeit der davon berührten Rechtsstellung (vgl. BGH NJW 1973, 522) nicht entgegen, daß die beanstandete Entfernung des Angeklagten während der gutachtlichen Äußerungen des Sachverständigen einem Antrag des Verteidigers entsprach, der, wie als naheliegend anzunehmen ist, im Einverständnis des Angeklagten gestellt wurde (vgl. BGH bei Holtz MDR 1978, 461; Kleinknecht/Meyer StPO 40. Aufl. § 337 Rdn. 47). Zureichende Anhaltspunkte für ein darüber hinausgehendes, gezielt auf die – vorsorgliche – Schaffung eines Revisionsgrundes gerichtetes Verhalten, das Anlaß zur Prüfung hätte geben können, ob dadurch in einer dem Angeklagten zurechenbaren Weise die Zulässigkeit der Rüge unter dem Gesichtspunkt arglistigen (rechtsmißbräuchlichen) Vorgehens beeinflußt sein könnte (vgl. dazu BGHSt 24, 280, 283 [BGH 05.01.1972 – 2 StR 376/71]; 22, 83, 85 [BGH 13.02.1968 – 5 StR 706/67]; 15, 306, 308 [BGH 24.01.1961 – 1 StR 132/60]; 10, 77; Hanack in Löwe-Rosenberg StPO 24. Aufl. § 337 Rdn. 282; W. Schmid, Die Verwirkung von Verfahrensrügen im Strafprozeß, 1967, S. 53, 67 ff., 336 ff.; Weber GA 1975, 289, 302 f.; Maatz NStZ 1992, 513, 514 f., 516; Widmaier NStZ 1992, 519, 521 f.), ergeben sich aus dem dem Senat bekannten Sachverhalt nicht. Zudem war jedenfalls der allein schon zur Anwendung des § 338 Nr. 5 StPO führende Verstoß gegen das Anwesenheitsrecht des Angeklagten während der Augenscheinseinnahme sowie der Verhandlung und Entscheidung über die Vereidigung und Entlassung des Sachverständigen durch den Antrag des Verteidigers auf vorübergehende Entfernung des Angeklagten während der Erstattung des Sachverständigengutachtens nicht veranlaßt.
2.
Einer Entscheidung des Senats über den Antrag des Nebenklägers, Prozeßkostenhilfe für das Revisionsverfahren unter Beiordnung von Rechtsanwalt R. in A. zu gewähren, bedarf es nicht mehr, nachdem das Landgericht dem Gesuch bereits stattgegeben hat. Diese Entscheidung ist unanfechtbar und damit in Rechtskraft erwachsen (§ 397 a Abs. 2 StPO). Die Unzuständigkeit des Landgerichts steht dem jedenfalls dann nicht entgegen, wenn dem Antrag entsprochen worden ist (vgl. BGH NJW 1990, 460).
Zschockelt
Kutzer
Blauth
Miebach
Winkler
Autor: Prof. Dr. Ulrich Ziegert
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